Startseite  | Projektbeschreibung | Symposium 2005  | Restaurierung  | Ausstellung  | Publikationen
allgemeine Information  | Programm  | Redner  | Vortraege

Boris Groys
Vom Bild zur Bilddatei – und zurück

Die Präsenz digitaler Videobilder im Museum regt an, darüber nachzudenken, was es für das Kunstsystem bedeutet, dass bewegte Bilder gerade an diesem Ort und, generell, in einem traditionellen Ausstellungsraum gezeigt werden – und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um einen analogen Film oder um ein digitales Video handelt. Ich möchte mich in diesem Kontext speziell mit der Problematik der Digitalisierung auseinandersetzen, die sich aber nicht nur auf das Video, sondern auch auf die digitale Fotografie bezieht. Denn das Videobild ist beides: digital und beweglich. Und man beschreibt es deswegen am besten, wenn man diese beiden seiner Eigenschaften voneinander trennt, denn es gibt analoge Bilder, die auch beweglich sind (eben die Filmbilder), und digitale, die unbeweglich sind (eben die fotografischen Bilder). Nun: Wenn bewegte Bilder im musealen Kontext platziert werden, wird ihre Wahrnehmung dabei wesentlich von den Erwartungen bestimmt, die wir im Allgemeinen mit einem Museumsbesuch verbinden – das heißt von den Erwartungen, die aus der langen Vorgeschichte unserer Kontemplation der unbewegten Bilder stammen, seien es Gemälde, Fotografien, Skulpturen oder Readymade-Objekte. Dabei handelt es sich vor allem um Erwartungen, die sich auf die Zeit einer solchen Kontemplation beziehen.

Im traditionellen Museum hat der Betrachter – zumindest im Idealfall – die vollständige Kontrolle über die Zeit der Kontemplation: Er kann zu jeder Zeit die Kontemplation eines Bildes abbrechen, um später zu diesem Bild zurückzukommen und die Betrachtung an dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem sie zuvor unterbrochen wurde. Das unbewegte Bild bleibt durch die Zeit der Abwesenheit des Betrachters sich selbst identisch und entzieht sich deswegen der wiederholten Betrachtung nicht. Man kann sogar behaupten, dass die Herstellung dieser kontinuierlichen Selbstidentität der ausgestellten Bilder die eigentliche Aufgabe des musealen Systems als solches darstellt. Die ganze Anstrengung der Aufbewahrung, Sicherung und Restaurierung der im Museum zu >konservierenden< Bilder dient der Aufrechterhaltung ihrer Identität – das heißt der Unveränderbarkeit ihrer Form, die der rückkehrenden Aufmerksamkeit des Museumsbesuchers tendenziell unbegrenzt zu Verfügung stehen soll. Man kann sicherlich behaupten, dass eine solche durch die museale Konservierung hergestellte Identität eine Illusion ist – aber eben auf diese Illusion kommt es an, da sie die Erwartungen des Museumsbetrachters bestimmt.

In diesem Sinne macht die aufbewahrende, konservierende Herstellung der Identität, verstanden als Unveränderbarkeit, Unbeweglichkeit des Bildes in der Zeit, eigentlich das aus, was wir in unserer Kultur als >hohe Kunst< bezeichnen. Im üblichen >normalen< Leben wird uns die Zeit der Kontemplation eindeutig vom Leben selbst diktiert. Wir verfügen in Bezug auf die Lebensbilder über keine Autonomie, keine Verwaltungsmacht: Wir können nämlich nur das – und dies nur solange – sehen, was uns – und wie lange es uns – vom Leben gezeigt wird. Im Leben sind wir immer nur zufällige Zeugen bestimmter Ereignisse und bestimmter Bilder, deren Ablauf in der Zeit wir nicht kontrollieren können. Deswegen beginnt jede Kunst mit dem Wunsch, einen Augenblick festzuhalten, ihn lange Zeit – tendenziell ewig lang – verweilen zu lassen. Erst dann bekommt der Betrachter die unendliche Zeitreserve, die er braucht, um Zeit und Rhythmus seiner Betrachtung völlig autonom zu bestimmen. Das Museum – und generell ein Ausstellungsraum, in dem unbewegte Bilder gezeigt werden – bezieht seine eigentliche Berechtigung also in erster Linie daraus, dass dort die Autonomie des Betrachters – verstanden als seine Fähigkeit, die Zeit seiner Aufmerksamkeit zu verwalten – durch das System der musealen Aufbewahrung und Präsentation garantiert wird.

Mit der Einführung der bewegten Bilder ins Museum ändert sich die Lage aber drastisch, da diese beginnen, dem Betrachter die Zeit ihrer Betrachtung zu diktieren – und ihn seiner gewohnten Autonomie zu berauben. Wir verfügen in unserer Kultur über zwei unterschiedliche Modelle, die uns erlauben, Kontrolle über die Zeit zu erlangen: Die Immobilisierung des Bildes im Museum und die Immobilisierung des Zuschauers im Kinosaal. Beide Modelle versagen allerdings, wenn die bewegten Bilder in den musealen Raum versetzt werden. Die Bilder laufen in diesem Falle weiter – aber die Zuschauer beginnen ebenfalls zu laufen. Im Ausstellungsraum bleibt man nämlich nicht lange Zeit sitzen oder stehen, sondern macht immer wieder Runden durch den ganzen Raum, bleibt für eine Weile vor einem Bild stehen, nähert sich ihm oder entfernt sich von ihm, betrachtet es aus unterschiedlichen Perspektiven und so weiter. Diese Bewegung des Betrachters im Ausstellungsraum kann nicht willkürlich gestoppt werden, weil sie für das Funktionieren der Wahrnehmung im Kunstsystem konstitutiv ist. Darüber hinaus wäre ein Versuch, den Ausstellungsbesucher zu zwingen, alle ausgestellten Video- und Kinoarbeiten vollständig von Anfang bis Ende zu sehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Zeit eines durchschnittlichen Museumsbesuchs reicht dafür einfach nicht aus. Eine Video- oder Kinoinstallation im Museum hebt also das Bewegungsverbot, das die Betrachtung dieser Bilder im Kinosystem bestimmt, radikal auf – Bilder und Zuschauer erhalten die Erlaubnis, sich gleichzeitig zu bewegen.

Es ist offensichtlich, dass dadurch eine Lage entsteht, in der die kontradiktorischen Erwartungen eines Kinobesuchs und eines Museumsbesuchs in einen deutlichen Konflikt geraten – und den Besucher der Installation in den Zustand des Zweifels und der Ratlosigkeit versetzen.Grundsätzlich weiß der Installationsbesucher nämlich nicht mehr, was er eigentlich tun soll: Soll er stehen bleiben und die Bilder wie in einem Kinosaal vor seinen Augen laufen lassen oder soll er sich wie in einem Museum weiterbewegen im Vertrauen darauf, dass die bewegten Bilder mit der Zeit doch nicht so anders werden, wie es zu befürchten ist? Beide Lösungen sind offensichtlich unbefriedigend – eigentlich sind sie gar keine richtigen Lösungen. Allerdings wird man sehr schnell dazu gezwungen anzuerkennen, dass es in dieser neuen Lage überhaupt keine adäquaten und zufrieden stellenden Lösungen geben kann. Jede einzelne Entscheidung, stehen zu bleiben oder weiterzugehen, bleibt ein fauler Kompromiss – und muss später immer wieder revidiert werden.

Gerade diese grundsätzliche Unsicherheit, die entsteht, wenn sich Bilderbewegung und Betrachterbewegung gleichzeitig vollziehen, schafft allerdings den ästhetischen Mehrwert bei der Verlegung der bewegten Bilder ins Museum, von dem eingangs die Rede war. Im Falle der Videoinstallation entsteht ein Kampf um die Kontrolle über die Zeit der Kontemplation zwischen Betrachter und Künstler. Die Zeit der realen Kontemplation muss infolgedessen immer erneut ausgehandelt werden – wobei es niemals zu einer vollständigen Übersichtlichkeit der Bilder kommen kann. Der ästhetische Wert der Medieninstallation im Museum besteht also vor allem darin, die Unübersichtlichkeit, die Ungewissheit, die fehlende Kontrolle des Betrachters über die Zeit der eigenen Aufmerksamkeit in musealen Räumen explizit zu thematisieren, in denen bis dahin die Illusion der vollständigen Übersichtlichkeit herrschte. Wohl bemerkt handelt sich dabei nicht um die berühmt-berüchtigte >Unausschöpflichkeit des Sinns< eines Kunstwerks, das heißt um das >geistige< Unvermögen des Betrachters, die Bedeutung eines Kunstwerks vollständig zu ergründen, sondern um ein rein physisches, zeitbedingtes Unvermögen, die materielle Form des Kunstwerks überhaupt zu überblicken, noch vor jeder möglichen Interpretation. Dieses Unvermögen wird zusätzlich durch die erhöhte Geschwindigkeit verschärft, mit der die bewegten Bilder heutzutage produziert werden können.

Die überragende Arbeits-, Zeit- und Kraftinvestition, die für die Schaffung eines traditionellen Kunstwerks benötigt wurde, stand nämlich früher in einem für den Betrachteräußerst günstigen Verhältnis zur Dauer desKunstkonsums. Nachdem der Künstler an seinem Werk lange Zeit und hart arbeiten musste, durfte der Betrachter dieses Werk mühelos und mit einem Blick konsumieren. Daher die traditionelle Überlegenheit des Konsumenten, des Betrachters, des Sammlers über den Künstler-Maler als Zulieferer der Bilder, die in mühsamer, physischer Arbeit hergestellt werden mussten. Erst dank der Fotografie und dem Readymade-Verfahren stellt sich der Künstler mit dem Betrachter auf eine gemeinsame Ebene in der Zeitökonomie, denn der Künstler bekommt dadurch die Möglichkeit, Bilder ebenfalls augenblicklich zu produzieren. Nun kann aber die Kamera, die die bewegten Bilder produziert, diese Bilder auch automatisch aufnehmen, ohne dass der Künstler überhaupt seine Zeit dafür verwenden muss. Dadurch erhält der Künstler einen deutlichen Überschuss an Zeit: Der Zuschauer muss jetzt mehr Zeit für die Betrachtung der Bilder verwenden, als sie der Künstler für ihre Herstellung gebraucht hat. Und noch einmal: Es handelt sich dabei nicht um eine gewollt verlängerte Zeit der Kontemplation, die der Betrachter eventuell braucht, um das Bild zu >verstehen< – denn über eine solche Zeit der bewussten Kontemplation verfügt der Betrachter frei und autonom. Vielmehr handelt es sich um eine Zeit, die der Betrachter braucht, um eine Video- oder Kinoarbeit überhaupt in ihrem vollen Umfang sehen zu können – und die die Dauer des üblichen Museumsbesuchs durchaus übersteigen kann. Auf verschiedenen Ebenen der Zeitökonomie zwingen also die Medieninstallationen den Betrachter, Entscheidungen in Bezug auf sein Kontemplationsverhalten zu treffen, die ihn zugleich – zumindest tendenziell – zu keiner abschließenden Betrachtung führen können.

Die Grunderfahrung, die der Betrachter einer Videoinstallation macht, ist somit die Erfahrung der Nicht-Identität des ausgestellten Werks. Jeder Besuch einer Videoausstellung konfrontiert den Zuschauer potentiell mit einem anderen Ausschnitt aus der gleichen Videoarbeit, sodass sich diese Arbeit ihm jedes Mal anders zeigt – und sich seinem Blick gleichzeitig partiell entzieht, sich unsichtbar macht. Die Nicht-Identität der Videobilder zeigt sich aber auch auf einer anderen, wenn man will, noch tieferen Ebene. Ein Video entsteht, gleich dem Film, ursprünglich als eine Kopie. Kann man aber sagen, dass alle Kopien eines Films untereinender identisch sind? Solange ein Film unter den standardisierten Bedingungen eines Kinobesuchs läuft – ja, man kann es vielleicht sagen. Die Situation ändert sich allerdings grundsätzlich, wenn der Film im Rahmen einer Filminstallation im Ausstellungsraum gezeigt wird, denn in diesem Fall werden sowohl der Raum wie auch die Dauer der Aufführung explizit thematisiert. Man beginnt, den Film mit anderen Objekten oder Kunstwerken zu vergleichen, die man möglicherweise im Ausstellungsraum findet – gemalten Bildern, Fotografien, Texten und so weiter. Im Endeffekt beginnt sich eine Kopie von einer anderen Kopie des gleichen Films durch die Art zu unterscheiden, wie sie aufgeführt, gezeigt, kuratiert wird. Die explizite Kontextualisierung der Aufführung macht die Ereignishaftigkeit und somit die Nicht-Identität des Films oder des Videos deutlich, die sonst oft übersehen werden.

Aber noch deutlicher manifestiert sich die Nicht-Identität des Bildes im Falle des Videos – wegen seiner Digitalität. Der digitale Code eines Videos ist als solcher unsichtbar. Und wenn er sichtbar gemacht wird, wie etwa in ein er berühmten Szene aus dem Film Matrix, sieht dieser Code radikal anders aus als das Bild, das mittels dieses Codes aufgeschrieben und gespeichert wurde. Das Bild beginnt hier wie ein musikalisches Stück zu fungieren, dessen Partitur bekanntlich ebenfalls dem Stück selbst nicht-identisch ist, denn sie klingt nicht, sondern ist stumm. Damit die Musik erklingt, muss sie aufgeführt werden. Aber das bedeutet eben, dass ein Musikstück wesentlich ereignishaft, nichtidentisch ist. Das Video und auch digitale Fotografie machen also das Bild zusätzlich nicht-identisch. Die Selbstidentität des Bildes ist im allgemeinen eine Illusion, hinter der sich eine bestimmte kuratorische Aufführungspraxis verbirgt. Das Videobild macht ein solches Verbergen strukturell unmöglich. Hier wird es völlig offensichtlich, dass das Bild, um gesehen zu werden, aufgeführt, gezeigt, kuratiert werden soll. So kann man vermuten – und es geschieht eigentlich schon jetzt –, dass die Aufführungen eines Bildes im Sinne des Bildwerdens einer Bilddatei bald genauso innovativ sein werden, wie heute etwa eine Theateraufführung innovativ sein kann, indem sie vom Text des Autors wenig übrig lässt und den Kontext des Stücks völlig anders interpretiert.

Bis zu einem Grad ist eine solche Strategie sogar unvermeidlich. Der Raum, in dem die Videos heute zirkulieren, ist nämlich ein extrem heterogener Raum. Man kann Videos mittels eines Videorekorders anschauen, aber auch als Projektion, im Fernsehen, im Kontext einer Videoinstallation, auf dem Monitor des eigenen Computers, mittels des Handys und so weiter. In allen diesen Fällen sieht die gleiche Videodatei äußerlich unterschiedlich aus – ganz zu schweigen von sehr verschiedenen Kontexten, in denen sie gezeigt wird. Wenn man bestimmte technische Parameter ändert, ändert sich auch das Bild. Und solche Änderungen sind unvermeidlich, denn die Technik ändert sich ständig – Hardware, Software, Bildschirm, einfach alles. Somit transformiert sich auch das Bild bei jeder neuen Aufführung. Kann man vielleicht die alte Technik konservieren, damit das Bild selbstidentisch bleibt? Nun verlagert aber eine konservierte Technik, wie schon Siegfried Krakauer zurecht bemerkt hat, die Wahrnehmung eines bestimmten Bildes von diesem Bild selbst auf die technischen Bedingungen, unter denen es entstanden und ausgeführt ist. So interessieren uns bei den alten Fotografien weniger das Sujet und auch nicht so sehr die individuelle Haltung des Fotografen. Worauf wir in erster Linie reagieren, ist die altmodische fotografische Technik, die für uns bei der Neubetrachtung der alten Fotos deutlich zum Vorschein kommt. Diesen Effekt hat der Künstler aber nicht beabsichtigt, denn ihm fehlten die entsprechenden Vergleichsmöglichkeiten mit den späteren technischen Entwicklungen.

So wird das Bild selbst möglicherweise übersehen, wenn es mittels der Originaltechnik wiedergegeben wird. Und so wird die Entscheidung nachvollziehbar, dieses Bild auf neue technische Mitteln, auf neue Software und Hardware zu überschreiben, damit dieses Bild wieder frisch aussehen könnte, damit es nicht bloß retrospektiv interessant wäre, sondern als gegenwärtiges, aktuelles Bild erschienen würde. Allerdings gerät man durch eine solche Argumentation in die gleiche Zwickmühle, aus der das Theater von heute bekanntlich nicht herauskommen kann. Keiner weiß nämlich, was besser ist, die Epoche oder die Individualität des Stücks bei einer Inszenierung zu verraten. Aber eines von beiden – oder sogar beide – werden unvermeidlich bei jeder Inszenierung verraten.

Darüber hinaus: Die heutige Technik denkt in Begriffen der Generation – wir sprechen über die Computergenerationen, die Generationen der Foto- und Videoapparatur und so weiter. Aber dort, wo es Generationen gibt, gibt es auch Generationskonflikte, gibt es ödipale Kämpfe. Die Macht des Ödipus-Komplexes über die heutige Technik kann jeder erfahren, der seine alten Texte oder Bilder auf eine neue Software zu überschreiben versucht – vieles geht dabei verloren, vieles wird >umgebracht<, vieles gerät ins Dunkle, verliert das Augenlicht. Jeder Universitätsprofessor weiß, was es bedeutet, ein traditionelles, selbstidentisches Wissen der nächsten Generation von Studenten zu übermitteln – es in ihre Gehirne zu überschreiben. Sobald die Technik beginnt, in Generationen zu denken, ist sie als Medium der identischen Widergabe, des Konservierens, Stabilisierens, Aufbewahrens schlicht und einfach erledigt. Die biologische Metapher sagt hier alles: Nicht nur das berühmt-berüchtigte Leben, sondern auch die ihr angeblich entgegengesetzte, weil verlässliche Technik ist zum Medium der Nicht-Identität geworden.

Die technischen Zwänge können aber auch produktiv benutzt werden – man kann mit der technischen Beschaffenheit eines digitalen Bildes auf allen Ebenen spielen, inklusive materieller Beschaffenheit des Monitors oder der Projektionsfläche, des externen Lichts, das die Wahrnehmung eines Videobildes, wie wir wissen, substantiell ändert – ganz zu schweigen davon, dass man das Bild durch den Kontext seiner Aufführung ebenfalls grundsätzlich verändern kann. Somit wird jede Aufführung eines digitalisierten Bildes zu seiner Neu-Erschaffung. Die heutige digitale Bilderwelt zeigt also: Es gibt so etwas wie eine Kopie nicht. Wir haben es in der digitalen Bilderwelt nur mit Originalen zu tun. So wie wir in der Musikwelt nur mit Originalen zu tun haben – das heißt nur mit den Originalaufführungen, wobei sich auch digitalisierte Musikaufnahmen als Originale aufführen lassen – wie es der Beruf des DJ manifestiert. (Es gibt inzwischen übrigens auch die VDJ.) Damit sind wir gezwungen, unsere Vorstellungen vom Schicksal der Bilder im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, wie dieses Schicksal bei Walter Benjamin in seiner berühmten Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit1 beschrieben wurde, radikal zu überdenken und neu zu bestimmen.

Benjamin geht nämlich in dieser Schrift von der Möglichkeit einer perfekten Reproduktion aus, die keine materielle Unterscheidung zwischen Original und Kopie mehr zulässt. An verschiedenen Stellen seines Textes besteht Benjamin immer wieder auf dieser Perfektion. Er spricht von der technischen Reproduktion als einer »höchstvollendeten Reproduktion«, die den »Bestand des Kunstwerks unangetastet lässt«. Benjamin will sich nämlich die äußerste Möglichkeit einer absolut perfekten technischen Reproduktion vorstellen, bei dem die traditionellen Künste wie Malerei oder Skulptur absolut reproduzierbar werden und damit unter den gleichen Bedingungen zu funktionieren beginnen, unter denen etwa Fotografie oder Film funktionieren – das heißt unter den Bedingungen der ursprünglichen Ununterscheidbarkeit zwischen Original und Kopie. Die Frage, die Benjamin sich dabei stellt, ist die folgende: Bedeutet die Auslöschung der materiellen Unterscheidung zwischen Original und Kopie auch die Auslöschung dieser Unterscheidung als solcher?

Diese Frage beantwortet Benjamin mit »Nein«. Das – zumindest potentielle – Verschwinden eines jeglichen materiellen Unterschieds zwischen Original und Kopie löscht eine andere, unsichtbare, aber damit nicht weniger reale Unterscheidung zwischen ihnen nicht aus: Das Original hat nämlich eine Aura, die die Kopie nicht hat. Die Aura ist für Benjamin das Verhältnis des Kunstwerks zu dem Ort, an dem es sich befindet – zu seinem äußeren Kontext. Die Unterscheidung zwischen Original und Kopie ist für Benjamin somit eine topologische Unterscheidung – und als solche vom materiellen Bestand des Werks völlig unabhängig. Das Original hat einen bestimmten Ort – und durch diesen besonderen Ort ist das Original als dieser einzigartige Gegenstand in die Geschichte eingeschrieben. Die Kopie ist dagegen virtuell, ortlos, ungeschichtlich: Sie erscheint von Anfang an als potentielle Multiplizität. Die Reproduktion ist Entortung, Deterritorialisierung – sie befördert das Kunstwerk in die Netze der topologisch unbestimmten Zirkulation. Die entsprechenden Formulierungen Benjamins sind bestens bekannt: »Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.« Und weiter: »Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus, und auf deren Grund ihrerseits liegt die Vorstellung einer Tradition, welche dieses Objekt bis auf den heutigen Tag als ein Selbes und Identisches weitergeleitet hat. Die Kopie ist also nicht deswegen unecht, weil sie sich als solche vom Original unterscheidet, sondern weil sie sich nicht verorten lässt – und deswegen auch in keine Tradition, in keine Geschichte einschreiben lässt: »Diese veränderten Umstände mögen den Bestand des Kunstwerks unangetastet lassen – sie entwerten auf alle Fälle sein Hier und Jetzt« – und damit auch seinen Status als Original.

Benjamin denkt also den profanen Raum der Zirkulation von Fotografie, Film oder, sagen wir, Video als einen homogenen Raum, in dem die Identität der Kopie auf jeden Fall garantiert wird. Da die >Originale<, die früher an den exklusiven, geschützten, sakralen Orten untergebracht wurden, beginnen, originalgetreu kopiert zu werden und in den profanen Netzwerken der Massenmedien zu zirkulieren, ist man berechtigt zu sagen, dass der profane Raum total und das Bild definitiv selbstidentisch, eben >mechanisch reproduzierbar< geworden ist. Die Realität der Reproduktionstechnik ist aber, wie wir gesehen haben, inzwischen eine völlig andere geworden. Wenn auch die digitale Version eines Bildes, das heißt eine Bilddatei, als frei zirkulierend gedacht werden kann, ist diese Bilddatei mit dem Bild selbst visuell nicht identisch. Indem diese Bilddatei aber als Bild zur Erscheinung gebracht wird, zeigt sich dieses Bild den anderen Aufführungen der gleichen Bilddatei ebenfalls nicht identisch. Die topologische Homogenität des technischen, massenmedialen Raums der digitalen Reproduzierbarkeit ist eine Illusion. De facto ist dieser Raum höchst heterogen, denn er schließt in sich sehr spezifische Kontexte wie auch sehr unterschiedliche und nicht immer kompatible Techniken ein.

Nicht einmal auf der Ebene der Bilddatei selbst kann man die nötige Selbstidentität garantieren. Das zentrale Charakteristikum des Internets besteht nämlich gerade darin, dass im Netz alle Zeichen, Worte und Bilder eine Adresse bekommen, das heißt, verortet, territorialisiert, in eine heterogene Topologie eingeschrieben werden. In diesem Sinne macht das Netz aus jeder Datei, die vielleicht ursprünglich als multiple Kopie entstanden ist, immer schon ein Original. Das Netz vollzieht eine (Re)Originalisierung der Kopie, indem sie ihr eine Netzadresse verleiht. Dadurch bekommt jede Datei eine Geschichte, weil sie von den materiellen Bedingungen ihres Ortes abhängig wird. Im Netz ist die Datei von Anfang an nämlich von der Beschaffenheit der jeweiligen Hardware, des Servers, der Software, des Browsers und so weiter wesentlich abhängig. Beim Wechsel dieser materiellen Bedingungen an verschiedenen Stellen können individuelle Dateien verzerrt dargestellt, anders interpretiert oder gar unlesbar gemacht werden. Sie können auch von bestimmten Computerviren befallen werden, zufällig gelöscht werden oder aber einfach altern und sterben. So bekommen Dateien im Netz ihre Geschichte, die, wie jede Geschichte überhaupt, vor allem die eines möglichen oder reellen Verlustes ist. Und in der Tat werden solche Geschichten ständig erzählt: Wie bestimmte Dateien nicht mehr gelesen werden konnten, wie bestimmte Websites irgendwann verschwunden sind und so weiter. Wir erleben also schon im Internet eine Rückkehr des Originals und seiner Geschichte, wie sie von Benjamin beschrieben wurde. Die Einführung des Netzes kann als eine Reaktion auf die ungehinderte, virtuelle Ausbreitung der Kopien interpretiert werden, die durch die Territorialisierung dieser Kopien im Netz gestoppt und sogar rückgängig.

Umso mehr gilt das Gesagte aber für Film- und Videoinstallationen. Da die Unterscheidung zwischen Original und Kopie allein eine topologische und situative ist, bedeutet das, dass alle im Museum platzierten Dinge eigentlich Originale sind – und zwar auch und gerade dann, wenn sie sonst als Kopien zirkulieren. Die Installation macht das Kopieren reversibel: Sie verwandelt eine Kopie ins Original. Aber die ganze Moderne veranstaltet eigentlich ein kompliziertes Spiel der Entortungen und (Neu)Verortungen, der Deterritoralisierungen und Reterritorialisierungen, der Entauratisierungen und Reauratisierungen. Was die Moderne von alten Zeiten unterscheidet, ist nicht der Verlust der Aura, sondern allein die Tatsache, dass die Originalität eines Werks in der Moderne nicht anhand der materiellen Beschaffenheit dieses Werks festgestellt wird, sondern durch seine Aura, durch seinen Kontext, durch seinen geschichtlichen Ort. Vor allem im Zeitalter der Digitalisierung des Bildes wird deutlich: Wir haben heute nicht mit den Kopien zu tun, sondern ausschließlich mit den Originalen, inklusive der originalen Aufführungen der selben Bilddateien, denn der Raum der Zirkulation der Bilder ist heute nicht homogen, sondern heterogen – und somit ist jede neue Kontextualisierung des Bildes seine Originalisierung, seine Neu-Erfindung.

Die Aufführung der Bilder ist die Arbeit des Kurators – oder des Künstlers, insofern er die kuratorische Tätig keit übernimmt und etwa eine Installation baut. Im Verhältnis zum traditionellen, gemalten Bild, aber auch zur analogen Fotografie spielte der Kurator – zumindest dem Anschein nach – eine untergeordnete Rolle. Nach der Überzeugung der Moderne muss das Bild für sich selbst sprechen, muss allein die stumme Betrachtung des Bildes seinen Betrachter von seinem Wert überzeugen. Der Ausstellungskontext muss zur weißen Wand und guter Beleuchtung reduziert werden. Das theoretische und narrative Gerede muss aufhören. Sogar der affirmative Diskurs, sogar die vorteilhafte Ausstellung beleidigen das Bild. Die Aufgabe der Kuratoren wurde darin gesehen, einzelne Kunstwerke besser und vorteilhafter aussehen zu lassen. Oder anders gesagt: Das beste Kuratieren wurde als Null-Kuratieren, als Nicht-Kuratieren begriffen. Als beste Lösung diente unter dieser Perspektive der Vorschlag, das Kunstwerk allein zu lassen, damit der Zuschauer mit ihm direkt konfrontiert werden kann. Nicht einmal der berühmte White Cube scheint dafür übrigens gut genug zu sein. Dem Zuschauer wird empfohlen, sich ganz von der räumlichen Umgebung des Kunstwerks innerlich zu abstrahieren und vollständig in eine selbst- und weltvergessende Kontemplation zu versinken. Nur dann, das heißt jenseits jedes Kuratierens, scheint die Begegnung mit dem Kunstwerk authentisch und genuin ereignishaft zu sein.

Nun eine Bilddatei nicht als Bild aufgeführt, ausgestellt wird, existiert sie als Bild auch nicht. Damit manifestiert die Digitalisierung allerdings allgemeine Bedingungen der Bildwahrnehmung, die sonst verborgen und übersehen bleiben. So sagt Giorgio Agamben in seinem neuesten Buch Profanierungen: »Das Bild ist ein Sein, das seinem Wesen nach Aussehen, Sichtbarkeit oder Schein ist«.22 Leider reicht diese Wesensbestimmung aber nicht aus, um die Sichtbarkeit eines konkreten Bildes tatsächlich zu garantieren. Das Kunstwerk kann sich nämlich nicht kraft seiner eigenen Definition präsent machen und den Zuschauer dazu zwingen, es anzuschauen. Dafür fehlen dem Kunstwerk Vitalität, Energie, Gesundheit. Das Kunstwerk scheint ursprünglich krank, hilflos zu sein – man muss den Besucher zu ihm führen, wie im Krankenhaus der Besucher vom Medizinpersonal geführt wird, um einen im Bett liegenden Kranken anzuschauen. Nicht zufällig ist das Wort Kurator (curator) mit dem Wort Kurieren (to cure) etymologisch verwandt. Kuratieren ist Kurieren. Kuratieren kuriert die Ohnmacht des Bildes, seine Unfähigkeit, sich selbst zu zeigen, seine mangelnde Sichtbarkeit, die gerade durch die Digitalisierung besonders augenfällig wird, denn als Bilddatei ist das Bild da, aber eben im Zustand seiner Unsichtbarkeit – in einem Zustand außerhalb seines Wesens, in einem Zustand der Nicht-Identität. Das Kunstwerk braucht immer eine äußere Hilfe, es braucht eine Ausstellung, einen Akt des Zeigens, der Aufführung, es braucht einen Kurator, um auf die Beine zu kommen. Die Ausstellungspraxis ist die Medizin, die das ursprünglich kranke Bild gesund, das heißt, präsent, gut sichtbar erscheinen lässt.

So ist die Wirkung der Digitalisierung auf das Bild eine solche, die man als >Pharmakon< im Sinne von Derrida bezeichnen kann, indem es das Bild sowohl kuriert, wie auch zusätzlich krank macht. Die Digitalisierung, das heißt die Aufschreibung, die Verschriftung des Bildes, hilft ihm, reproduzierbar zu werden, frei zu zirkulieren, sich zu verbreiten. Es handelt sich also um eine Medizin, die das Bild von seiner angeborenen Unbeweglichkeit kuriert. Aber zugleich wird das Bild dadurch mit der Nicht- Identität infiziert – mit der Notwendigkeit, dieses Bild immer erneut und immer als sich selbst Unähnliches aufzuführen –, das heißt, es wird ein weiteres Kurieren, sprich Kuratieren, unvermeidlich. Und es wird auch unvermeidlich, immer erneut die Frage zu stellen, ob und wie man ein Bild in einer ursprünglichen Form, die es in diesem Fall eigentlich nicht mehr gibt, aufbewahren oder radikal neu aufführen will – und wenn neu, dann in welchem Sinne und so weiter. Damit wird ein Raum der Reflexion eröffnet, der freilich zu groß ist, um ihn hier sogar auch nur annährend beschreiben zu können.

 
Impressum  | Kontakt