Hans Dieter Huber
Die Verkörperung von Code
Was ist der Leitgedanke?
In der Frage der Präsentation, der Sammlung und der Erhaltung digitaler Kunstwerke gibt es zwei verschiedene Ebenen voneinander zu unterscheiden. Die eine Ebene betrifft die Ebene des Codes, welcher binär und in sich völlig bedeutungsfrei ist. Er kann zum Bild, zum Geräusch, zum Text oder zum Film werden. Die andere Ebene ist die Ebene der Interpretation dieses Code. Sie wird durch einen komplexen maschinellen Apparat aus Hardware, Betriebssystem und Software hervorgebracht, die den Code interpretiert und ihn damit zur Aufführung bringt.
Verkörperung
Die zweite These lautet, dass digitaler Code, um von einem Beobachter sinnhaft verstanden und mit Bedeutung belegt werden zu können, immer eine konkrete Verkörperung besitzen muss. Code ohne Verkörperung ist wie ein Text, der nicht gelesen wird. Eine Analogie zum Theater kann diese Beziehung verdeutlichen. Auf der einen Seite gibt es den gedruckten Text des Dramas und auf der anderen Seite die Aufführung dieses Textes durch einen Schauspieler. Die Aufführung geschieht an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt durch eine bestimmte Person. Hamlet, der Prinz von Dänemark, ist zunächst nur ein Text. Erst die Inszenierung dieses Textes durch einen Schauspieler auf einer Bühne bringt diesen Text zur Aufführung. Der Schauspieler verkörpert in dieser Aufführung den Prinz von Dänemark aber nur. Denn er ist selbst nicht Hamlet. Er verkörpert ihn und spielt ihn nur. An diesem Beispiel wird klar, dass derselbe Text von vielen verschiedenen, möglichen Schauspielern, dicken, dünnen, langen, kleinen, kräftigen und kränklichen Schauspielern verkörpert werden kann. Und man kann nicht einmal sagen, wer von all diesen Schauspielern nun die "wahre" oder "richtige" Verkörperung von Hamlet sei, sondern nur, dass es viele verschiedene mögliche Verkörperungen und Aufführungen gibt.
Dasselbe gilt für den digitalen Code. Erst die Interpretation des Codes durch eine bestimmte Hardware und Software bringt ihn zur Darstellung, führt ihn auf und macht ihn sichtbar. Das Hard- und Softwaresystem verkörpert also den digitalen Code, kann man sagen, ist aber nicht der Code selbst, ebensowenig wie der Schauspieler Hamlet ist. Man kann das Argument auch auf die Aufführung von Musik ausweiten. Musik, Theater und Computer haben miteinander gemeinsam, dass sie zwei vollständig voneinander getrennte Existenzweisen kennen: Text, Partitur oder Code auf der einen Seite und Schauspieler, Orchester oder Software auf der anderen Seite.
Die Unterscheidung zwischen Organisation und Struktur
m Zusammenhang mit der hier verhandelten Fragestellung ist die Unterscheidung zwischen der Organisation und der Struktur eines Medienkunstwerks sinnvoll. Was ist der fundamentale Unterschied zwischen Organisation und Struktur? Wenn Sie zum Beispiel eine Firma oder eine Behörde betrachten, dann hat diese Firma meistens einen Direktor, einen Geschäftsführer und mehrere Abteilungsleiter, verschiedene Abteilungen, einen Personalrat und Betriebsrat, einen Fahrer und einen Hausmeister. Diese abstrakten Hierarchien und Positionen bilden die Organisation der jeweiligen Firma. Es ist aber auch klar, dass diese Positionen von verschiedenen Personen ausgefüllt werden können, welche dann die jeweilige Funktion innerhalb dieser Organisation übernehmen. So kann z.B. der Direktor männlich oder weiblich, alt oder jung sein, diese oder jene Ausbildung haben, diese oder jene Sprachen sprechen. Die konkrete Verkörperung einer bestimmten Organisation zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort bezeichnet man als die Struktur dieses Unternehmens. Struktur ist also eine konkrete und verkörperte Organisation.
Man erkennt nun, dass die Organisation einer Firma ein abstraktes, allgemeines Schema ist, das auf vielerlei verschiedene Art und Weise durch konkrete Personen, Gegenstände oder Räume verkörpert werden kann. Wir können also durchaus von der konkreten Verkörperung (embodiment) einer Organisation sprechen. Derselbe Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Existenz kann bei Medienkunstwerken beobachtet werden. Wir können uns als Beobachter auf die abstrakte Organisation eines solchen Werks, also auf den Code, beziehen oder auf seine konkrete Verkörperung, wie sie durch eine spezifisch mediale Struktur von Hardware- und Softwarebedingungen an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt hervorgebracht wird. Mit der Interpretation des Code durch eine bestimmte Hard- und Software wird die Aufführung selbst zu einem historischen Ereignis, das an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit stattfindet und von bestimmten Beobachtern beobachtet werden kann. Aufgeführter und verkörperte Code ist daher immer historisch. Er ist präsent, gegenwärtig, hier und jetzt, um uns herum.
Notation und Aufführung
Im Gegensatz zu traditionellen Bildmedien wie Gemälden oder Zeichnungen existieren digitale Werke in zwei völlig verschiedenen Formen oder Zuständen, dem Zustand der Notation und dem Zustand der Aufführung.
Zunächst existiert Video nur in Form einer Notation, die ein analoger oder digitaler Code auf einem Band oder einer Scheibe ist. Am Magnetband oder an der Kunststoffscheibe selbst ist nicht erkennbar, was auf ihr gespeichert ist. Zusätzlich dazu besteht die Notation eines Videos jedoch nicht nur aus diesem Code, sondern auch aus zahlreichen originalen, materiellen Objekten. Dies vermag zunächst zu überraschen. Aber es gibt keine Form ohne Materie. Der Code besitzt eine bestimmte Materialität. Die spezifische Materialität eines Videos ist bereits eine historische Form der Verkörperung, die sich durch den originalen Bild- und Tonträger definiert, auf dem der Code physisch gespeichert ist. Auch hier, auf der Ebene des materiellen Trägers, ist klar, dass ein und derselbe Code viele verschiedene mögliche, materielle Bild- und Tonträger besitzen kann, z.B. VHS, Betamax, Video 2000, U-matic, oder Betacam. Man kann daher auch sagen, was der "wahre" oder "richtige" materielle Träger eines Videos ist, sondern nur, dass es viele verschiedene mögliche gibt, die alle bestimmte Vor- und Nachteile besitzen. Man kann in dieser Pluralität der materiellen Trägersysteme lediglich angeben, welches der ursprüngliche, originale, historische und authentische Bild- und Tonträger war, mit dem das Werk ursprünglich hergestellt wurde. Dieser ist dann für seine Musealisierung sehr wichtig.
Videokunst existiert auf dem Band oder auf der Scheibe in Form seiner nicht substituierbaren, originalen, materiellen Elemente. Alle spezifischen Komponenten, die zur Aufführung einer solchen Notation benötigt werden, wie Player, Monitore, Beamer, Verstärker, Lautsprecher, Computer, Betriebssysteme, Software oder bestimmte Kabelverbindungen, gehören dagegen nicht zur Organisation des Werkes. Sie stellen vielmehr die jeweilige temporäre Verkörperung des Code dar.
Der abstrakten Organisation eines Medienkunstwerks in Form seiner Notation oder Installationsanweisung steht also wie in der Musik eine konkrete Verkörperung in Form seiner Aufführung und Re-Präsentation an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit für bestimmte Beobachter gegenüber. Eine verkörperte Präsentation oder Aufführung ist immer schon eine Interpretation des Werkes. Einer Notation stehen also viele verschiedene Aufführungen und mögliche Interpretationen gegenüber. Diese Differenz von Notation und Präsentation findet sich bei allen magnetischen oder digitalen Bild- und Tonaufzeichnungssystemen. Aus dem binären Zahlencode alleine kann man nicht erkennen, um welche Art von Dokument es sich handelt. Hierzu benötigt man den so genannten Meta-Code, der jeweils am Anfang der binären Zahlensequenz geschrieben ist und ihre Interpretation beschreibt.
Auch hier hängt es von der konkreten Verkörperung der binären ASCII-Notation ab, in welcher Form die Daten sichtbar oder hörbar erscheinen. Ein und derselbe binäre Zahlencode kann als ein Bild, ein Sound oder ein Textdokument interpretiert werden. Die Software nimmt dabei die Rolle des Kurators, des Symphonieorchesters oder des Schauspielers ein. Sinn und Bedeutung binärer Zahlenkolonnen sind daher abhängig von einer konkreten Hard- und Software, welche die Zahlennotation an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Beobachter zur Aufführung bringt. Hard- und Software sind folglich Systeme der Verkörperung, der Aufführung und der Präsentation. Sie geben der abstrakten Organisation von Daten einen konkreten, physischen Körper, der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort für einen bestimmten Beobachter existiert.
Bleiben wir jedoch noch einen Moment bei den Fragen und Problemen der Präsentation digitaler Kunstwerke. Auch auf Seiten der Hardware-Komponenten wird deutlich, dass jeder Austausch und jede Substitution einer Hardware-Komponente einen Effekt auf Form, Bedeutung und ästhetische Erfahrung eines solchen Werkes haben wird. Als vielleicht wichtigster Faktor sind hier die "Mentalitäts"-Unterschiede in der interpretierenden Software zu berücksichtigen. Taktfrequenzen, Abtastraten und zeitliche Zugriffsgeschwindigkeiten sind zwar ebenfalls für enorme Unterschiede in der Performance verantwortlich, erzeugen aber keine so gravierenden Unterschiede in der Verkörperung. Kontexteffekte ergeben sich ebenfalls bei einer Substitution des Betriebssystems. Windows, Apple Macintosh und UNIX sind im Prinzip die drei großen Betriebssysteme, die das Aussehen, die Form und das Verhalten einer Software fundamental beeinflussen. Hinzu kommen noch die unterschiedlichsten Betriebssystem-Versionen, die unterschiedliches Aussehen, Funktionalität und Performance bewirken.
Die Verkörperung von Video
Wenn man ganz an den Produktionsanfang eines Videos zurückgeht, dann wird man bemerken, dass die Produktion von Bild und Ton in starkem Maße von dem jeweiligen medialen Apparat abhängig ist, mit dem das Video produziert wurde. Das beginnt bei der verwendeten Aufnahmekamera, dem Linsensystem der Optik und der Art und Weise, wie das einfallende farbig strukturierte Licht mit Hilfe einer Vidiconröhre oder eines lichtempfindlichen Chips in ein elektrisches Signal umgewandelt wird, das wiederum auf einem analogen oder digitalen Speichermedium gespeichert wird.
Die entscheidenden Parameter oder Variablen der Bildaufzeichnung, der Bildrepräsentation oder der Herstellung des Bewegtbildes sind also zunächst Optik, Konvertierung und die Form der Speicherung. Bereits bis hier ist klar erkennbar, dass die konkrete Verkörperung von Bild und Ton in Form eines aufgezeichneten Bild- und Tonformats immer und stets von dem jeweiligen medialen Apparat abhängig ist, der zur Herstellung des Videos benutzt wurde. Sie ist also immer historisch. Der mediale Apparat, der die konkrete Verkörperung des Codes erzeugt, ist der unmittelbare Beleg für die Originalität des materiellen Objektes, des Bild- und Tonträgers.
Der mediale Apparat oder das mediale Dispositiv ist also der entscheidende Faktor in der Frage nach der Verkörperung von Code. Dabei gibt es zwei verschiedene mediale Anordnungen oder Apparate. Der eine mediale Apparat ist der historische. Es ist derjenige, mit dem zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort das Video hergestellt wurde. Diese historische, technisch-mediale Apparatur ist als Form in das Werk eingegangen. Diese historische, mediale Apparatur oder Technologie, die dem Autor bei der Herstellung zur Verfügung stand, ist in die Organisation des Werkes eingeflossen. Sie ist an der Form von Bild und Ton ablesbar. Sie ist zu einer Eigenschaft des Werkes geworden, die seine Originalität als unmittelbarer, authentischer Beweis seines historischen Ursprungs definiert.
Diesem historischen, medialen Apparat steht jedoch eine zweite mediale Anordnung gegenüber, die ich als das gegenwärtige Dispositiv von Präsentation, Aufführung und Inszenierung kennzeichnen möchte. In der Spannung zwischen dem historischen Apparat der Produktion und dem gegenwärtigen Apparat der medialen Inszenierung, Aufführung oder Präsentation liegt die Spannweite des kulturellen Erbes und unseres (gegenwärtigen) Umgangs mit (historischen) Formen und Objekten.
Das historische Dispositiv der medialen Anordnung ist bei der Herstellung des Videos in dessen Organisation eingegangen und zwar als Form. Daran kann man seine Historizität erkennen, beschreiben und interpretieren. In der Analyse und Interpretation der Form eines Werkes beschreiben wir seine Historizität, seine Zeitgebundenheit und seine Einbettung in bestimmte geistige, kulturelle, ökonomische, soziale oder gesellschaftliche Strömungen seiner Entstehungszeit, von denen es ein Ausdruck ist. Dies ist im Wesentlichen der Standpunkt der Ikonologie Erwin Panofskys. Form ist die historische Verkörperung des Codes.
Das gegenwärtige Dispositiv der medialen Anordnung dagegen ist immer zeitgenössisch. Es ist immer aktuell, immer hier und jetzt, immer da, immer um uns herum, immer anwesend. Deswegen wird es nicht bemerkt. Man könnte auch in Anlehnung an einen Begriff des amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James Jerome Gibson von einer umgebenden, medialen Anordnung (surrounding medial layout) sprechen. Sie ist die gegenwärtige Verkörperung des Codes in Form seiner Aufführung, seiner Präsentation oder seiner Inszenierung.
Die Aufführung von Videos
Es leuchtet daher unmittelbar ein, dass es von ein und demselben Video sehr viele verschiedene Arten und Weisen der Präsentation geben kann. Dies hängt von der spezifischen Materialität der beteiligten Mediensysteme ab. Aber nicht nur davon. Auch der Ort und die damit verbundenen räumlichen, visuellen, akustischen, institutionellen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen üben einen bedeutenden Einfluss auf Erscheinung, Verkörperung und Bedeutung desselben Videos aus.
Was heißt es eigentlich, wenn man von "demselben" Video spricht? In welchem Sinne ergibt diese Redeweise überhaupt Sinn? Wenn ich damit ein konkretes, materielles Objekt wie dieses Mini-DV Band in meiner linken Hand meine, dann kann ich dieses in Mini-DV verkörperte Werk in ganz verschiedenen medialen Anordnungen wiedergeben. Jedes Mal ist die konkrete Erscheinung oder Präsenz des abgespielten Bandes eine andere, eine auf andere Weise verkörperte Präsentation oder Aufführung.
Es lässt sich aber nicht sagen, welches die "wahre" oder "richtige" Aufführung eines Videos ist, sondern nur, dass es viele verschiedene mögliche gibt. Wenn man einen berühmten Satz des amerikanischen Philosophen Nelson Goodman leicht verändert, könnte man folgendes sagen: There is not the way a video is, but there are many ways.
In einer gegenwärtigen Aufführungssituation werden diese Differenzen und Verschiebungen in der konkreten Verkörperung des medialen Apparates nicht bemerkt. Sie bleiben latente Hintergrundstruktur der ästhetischen Erfahrung. Erst in einem gezielten, methodischen Vergleich mit systematischer Variation der einzelnen Variablen des gesamten medialen Apparats werden die daraus resultierenden Unterschiede in Präsenz, Erscheinung und Verkörperung des Werkes beobachtbar.
Sammeln
Was heißt es, Videos zu sammeln und für die Nachwelt zu erhalten? Es ist klar, dass nicht alles, was es gibt, für die Nachwelt erhalten werden kann. Es muss also eine Auswahl aus der Mannigfaltigkeit von Videobändern getroffen werden, um ein exemplarisches Bild von ihr zeichnen zu können. Die ausgewählten Werke, die der Nachwelt erhalten werden sollen, werden dabei nicht als materielle Beweisstücke für die Videokunst, so wie sie einmal war, ausgewählt, sondern als Belege, Dokumente und Repräsentanten bedeutender gesellschaftlicher und kultureller Werte. Sie erscheinen deshalb in ihrer musealen Re-Inszenierung nicht als zweckfreie "Dinge an sich", sondern als zweckdienliche "Dinge für uns", als Schnittstellen zum Erkennen und Verstehen unserer Kultur, unserer Geschichte und unserer Gesellschaft.
Das aktive Sammeln von Werken der Videokunst ist der erste Schritt zu ihrer Erhaltung. Aus der Fülle und Mannigfaltigkeit der Videokunst sollten diejenigen Werke aktiv gesammelt werden, die einen bedeutenden kulturellen Wert besitzen, deren Erhaltung und Erinnerung im Interesse der Gesellschaft liegt. Daher ist eine aktive Sammlung besser als ein zufälliges, kontingentes Auswählen. Das kulturelle Erbe sollte bewusst und gezielt angeeignet und dadurch erhalten werden. Hierzu sollten präzise und explizite Sammlungsrichtlinien entwickelt werden.
Aber was heißt das? Ein Videokunstwerk, das einen bedeutenden kulturellen Wert darstellt, dessen Erhaltung und Erinnerung im Interesse der Gesellschaft liegt? Man sieht an dieser Stelle, dass die Begriffe des Sammelns, der kulturellen Bedeutung und der Bewahrung für die Nachwelt hoch aufgeladene und ideologische Konzepte sind. Von daher sind sie natürlich von jeder anderen ideologischen Position aus leicht zu kritisieren. Aber es muss klar gesagt werden, dass es in dieser Angelegenheit keinen neutralen, ideologiefreien Standpunkt gibt. Von daher gibt es auch keinen moralisch besseren Standpunkt. Die einzige Chance besteht darin, sich der ideologischen Implikation des Sammelns und Musealisierens bewusst zu werden, die Entscheidungen und die zugrunde gelegte Ideologie des Sammelns als solche explizit offen zu legen und sie diskursiv-argumentierend zu begründen.
Erhalten und Bewahren
Kommen wir nun zu Fragen der Erhaltung digitalen Codes für die Nachwelt. Alterung lässt sich leider nicht aufhalten, wie wir täglich an unserem Körper feststellen können. Sie lässt sich nur künstlich verlangsamen. Der Restaurator ist also eigentlich ein Anti-Aging-Spezialist. Die Frage lautet daher, wie kann man physische Alterung verlangsamen. Hierbei handelt es sich um angewandte Naturwissenschaft. Man kann Alterung entweder aktiv verlangsamen, durch Einwirkung auf das materielle Objekt selbst oder passiv, durch Einwirkung auf seine Umgebungsbedingungen. Hierzu gehören vor allem die kontrollierte Beeinflussung von Licht, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Staub oder Magnetfeldern.
Auch Konservierung ist hoch ideologisch. Sie ist in starkem Maße abhängig vom jeweiligen Zeitgeist, vor allem aber dem technischen Wissen über solche Prozesse, die zur Degradation des Mediums führen. Sowohl dasjenige, was für die Erhaltung eines Werkes irgendwann einmal unternommen wurde, ist Zeitgeist bedingt als auch dasjenige, was dabei unterlassen wurde. Das bedeutet zwingend, dass auch die Strategien der Erhaltung und Konservierung von digitalem Code vom jeweiligen Zeitgeist und von den herrschenden Ideologien abhängig sind und dass sie sich auch in Zukunft immer wieder ändern werden.
Für mich als Nicht-Restaurator erscheinen Geschichte und Theorie der Restaurierung als eine Geschichte des Scheiterns, der Missverstände und des Fehlermachens. Daher stehe ich jeder Ideologie der Konservierung und jedem gut gemeinten Ratschlag äußerst misstrauisch gegenüber. Die Lektüre des Buches von Dietrich Dörner Die Logik des Misslingens sollte in jedem Grundlagenseminar über Restaurierethik zur Pflichtlektüre gemacht werden. Ich gebe Ihnen ein historisches Beispiel, das vielleicht deutlich macht, woher mein Misstrauen rührt.
1979 schrieb Gerhard Lechenauer in seinem Buch "Videomachen" folgende Sätze:
"Videobänder sind im Vergleich zu Filmrollen relativ unproblematisch zu lagern. Ihre elektrischen Eigenschaften verändern sich im Laufe der Zeit nicht. Filmmaterial verändert sich, trotz Lagerung in klimatisierten Räumen. Als schwerwiegendster Faktor ist dabei das Ausbleichen der Farben zu nennen. Die häufigen Systemänderungen bei Video in den letzten Jahren (ausgenommen die Zwei-Zoll-Studiotechnik) macht die Systementscheidung für ein Video-Archiv sehr schwer, die Überspielung alter Videoaufzeichnungen auf neue Systeme wird oft unumgänglich sein. Möglicherweise zeichnet sich in der Zukunft im 1-Zoll-Bereich eine günstige Veränderung ab. Die Robert Bosch GmbH hat die Nachbaurechte ihres 1-Zoll-Video-Systems (Quadruplex-Verfahren) zur kostenlosen Nutzung freigegeben. Wegen der günstigeren Kosten für das 1-Zoll-Magnetband bei hoher Bildqualität ist dieses Format für eine Archivierung besonders interessant."
Aus heutiger Sicht ist der Autor damals einer granatenmäßigen Fehleinschätzung unterlegen. Aber sind wir in unserer heutigen Überheblichkeit besser dran? Für mich wäre es eher interessant, danach zu fragen, welche Strategien und Denkmethoden der Zukunft von Langzeitarchivierung man im Jahre 1979 hätte anwenden sollen oder können, um herauszufinden, wohin die Reise in den nächsten 25 Jahren auf diesem Sektor geht. Hier wären also die Trend- oder Zukunftsforscher wie Matthias Horx oder Peter Wippermann die richtigen Ansprechpartner. Immerhin gab es 1979 schon zwei Jahre VHS und ein Jahr Betamax von Sony. Gerhard Lechenauer hat 1979 bestimmt noch nichts von CD-ROMS und DVDs gewusst, obwohl er theoretisch schon etwas von CD hätte wissen können, weil diese auch in den siebziger Jahren entwickelt wurden. Aber wäre es 1979 nicht viel interessanter gewesen, den umgekehrten Weg zu gehen und wichtige Videos auf Filmmaterial aus zu belichten, das aus heutiger Sicht wesentlich länger und besser haltbar erscheint. Mein erster Normal-Acht-Experimentalfilm aus dem Jahr 1969 besitzt heute, trotz einer sträflich leichtsinnigen Lagerung, immer noch Topschärfe und Farbqualität. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, gut, dass ich damals mit Film gearbeitet habe und nicht mit Video.
Jedenfalls hege ich den Verdacht, dass immer wieder das Allerneueste in diesem Bereich als Allheilmittel ungelöster Erhaltungsprobleme betrachtet wird. So sind es jetzt gerade die DVDs und die Open Source Formate, auf die alle Hoffnungen der Langzeitarchivierung gesetzt werden. Aber es könnte sehr schnell die Mode vorbei sein, einen neuen Patch oder Treiber für Linux schreiben zu wollen. So sind wir schließlich an einem Punkt angelangt, den der mittlerweile fast 90 Jahre alte Historiker Eric Hobsbawm vor ein paar Jahren in die Frage kleidete, ob man aus der Vergangenheit etwas für die Zukunft lernen könne? Egal, wie man grundsätzlich zu dieser Frage steht, halte ich den Versuch doch für lohnenswert, einmal darüber nach zu denken, wie man aus den zahlreichen, historisch sich wiederholenden Mustern von Erwartungen, Euphorien und Enttäuschungen ein paar gute Antworten für zukünftige Strategien der Erhaltung und Konservierung von Videokunst herausarbeiten könnte.
Literaturhinweis:
- Dietrich Dörner: Die Logik des Misslingens: strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1989
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